Welche Schaudergeschichten über Brasilien ich vor der WM nicht alles gehört habe! Von halbfertigen Stadien, von nicht vorhandener Infrastruktur, von Verkehrschaos, von Flugausfällen, von brütender Hitze, von Gewalt und Kriminalität, von tropischen Krankheiten und so weiter und so fort. Rückblickend muss ich sagen: Ich habe von alldem (fast) nichts erlebt. Okay, ein paar Kilometer weniger Stau wären ganz schön gewesen. Für die 21 Kilometer eben vom Hotel zum internationalen Flughafen Galeao in Rio de Janeiro habe ich anderthalb Stunden gebraucht. Weniger Stillstand, mehr Fortschritt auf den Straßen – das wäre manchmal ganz hilfreich!
Aber ansonsten war die Zeit hier fantastisch! Ich habe weder einen Sonnenstich bekommen noch bin ich von fiesen Killermücken krankenhausreif gestochen worden. Ganz im Gegenteil: Ich habe jeden meiner 35 Tage beim WM-Gastgeber genossen. In Fortaleza hat mir eine Brasilianerin gesagt: „Ihr Deutschen lebt, um zu arbeiten. Wir Brasilianer arbeiten, um zu leben.“ Ein Leben mit viel Lebensfreude. So habe ich die Brasilianer kennengelernt.
Zum Beispiel den etwa 55jährigen Taxifahrer, der mit mir als Fahrgast am Stadion von Flamengo Rio de Janeiro vorbeifuhr und plötzlich unaufgefordert anfing, ein Fanlied nach dem anderen anzustimmen. Seine Augen funkelten und er hörte nicht mehr auf zu singen. Er liebte den Fußball. Und er liebte Flamengo. Außerdem war er noch ein perfekter Fremdenführer, indem er mir jede Bucht, jede Siedlung, jedes größere Gebäude erklärte. Mit viel Freude und voller Stolz.
Ob die WM Brasilien voranbringen wird? Ich habe meine Zweifel. Wenn es in diesem Land Menschen gibt, die kein sauberes Wasser und keinen Strom haben und die sich jeden Tag aufs Neue Gedanken darüber machen müssen, wie sie ihre Familien ernähren, ist es falsch, 300 bis 400 Millionen Euro für Fußballstadien auszugeben. Aber das sollte man sich überlegen, bevor man die FIFA-Schurken zu sich nach Hause einlädt.
Brasilien ist in vielen Alltagsdingen chaotisch. Vor der Kasse im Supermarkt kann es eine halbe Stunde dauern, bis man dran kommt, weil auf manchen Ablagen nur Platz ist für vier Flaschen Wasser, ein paar Äpfel und Bananen. Da fängt man als permanent gehetzter Deutscher manchmal an, innerlich zu kochen. Doch die Brasilianer bekommen ihr tägliches Chaos mit Geduld, Leichtigkeit, Hilfsbereitschaft und Herzlichkeit in den Griff. Es gibt immer irgendwo einen Ausweg und für Vieles eine Lösung.
Ich habe mir wie nach jedem Besuch in diesem tollen Land auch diesmal fest vorgenommen, ein paar brasilianische Eigenschaften mit nach Hause zu nehmen. Meistens läuft es darauf hinaus, dass ich anfange, im Straßenverkehr öfter zu hupen. Diesmal werde ich mich bessern…